Foto einer Frau mittleren Alters mit kurzen braunen Haaren und blauer Bluse, die an einem Schreibtisch vor einem Laptop sitzt und in Gedanken in die Ferne blickt

„Jeder Mensch hat eine Hochbegabung.“

Veröffentlicht am 05.09.2023

Christiane Stenger gilt als einer der intelligentesten Menschen Deutschlands. Aber was bedeutet das eigentlich? Eine Annäherung an einen umstrittenen, elitären Begriff und die Mythen, die sich um das Phänomen Intelligenz ranken.

Etwas mehr als 50 Prozent der Intelligenz eines Menschen sind genetisch bedingt, das haben Studien mit eineiigen Zwillingen ergeben. Die Intelligenzforschung bezeichnet dies als „fluide Intelligenz“. Sie beginnt ab dem 20. Lebensjahr zu sinken und bezieht sich hauptsächlich auf die Fähigkeit und Schnelligkeit, unbekannte Probleme zu lösen. Der andere Teil, die sogenannte „kristalline Intelligenz“, wird von äußeren Faktoren beeinflusst, wie Lebensbedingungen, Wissensvermittlung, Trainings, aber auch Zuneigung, Liebe, Sicherheit und kreativer Entfaltungsmöglichkeit. Das Zusammenspiel beider Intelligenzen schafft die idealen Bedingungen für die Intelligenzentwicklung.

„Unser Gehirn entwickelt sich jedoch nur so, wie wir es benutzen. Je mehr wir es trainieren, desto mehr kann es. Intelligenz ist nichts Statisches“, sagt Christiane Stenger. Im Alter von acht Jahren wurde bei der Münchnerin ein Intelligenzquotient (IQ) von mehr als 140 Punkten festgestellt, mit elf Jahren wurde sie zum ersten Mal Junior­-Gedächtnisweltmeisterin, ihr Abitur absolvierte sie mit 16. In ihrem Alltag würde man davon nichts merken, behauptet sie: „Ich habe zwar ein extrem gutes Kurzzeitgedächtnis, dennoch bin ich die wahrscheinlich vergesslichste Gedächtnisweltmeisterin der Welt. Ich vergesse zum Beispiel häufig Geburtstage.“

 

„Ich bin die wahrscheinlich vergesslichste Gedächtnisweltmeisterin der Welt.“

Christiane Stenger
Portraitfoto von Christiane Stenger, Gedächtnisweltmeisterin und -trainerin sowie Bestsellerautorin

© Nils Schwarz

Christiane Stenger

Moderatorin, Schauspielerin, Speakerin, Gedächtnisweltmeisterin und -trainerin sowie Bestsellerautorin des Buchs „Lassen Sie Ihr Hirn nicht unbeaufsichtigt!“ (Campus Verlag). Zusammen mit Samira El Ouassil spricht sie im Podcast „Sag niemals Nietzsche“ über Philosophie.

Intelligenz ist nicht messbar

Die Dynamik von Intelligenz beweisen etwa Gedächtnisweltmeisterschaften, bei denen sich Teilnehmer und Teilnehmerinnen von Jahr zu Jahr verbessern, oder die berühmten IQ-Tests, bei denen Teilnehmende im Laufe ihres Lebens unterschiedliche Ergebnisse erzielen. Diese Tests sieht die gebürtige Münchnerin kritisch: „IQ­Tests messen die Schnelligkeit unseres Denkens hinsichtlich Logik, Sprachverständnis und manchmal mathematischem Verständnis. Andere Intelligenzformen wie musische, kommunikative Fähigkeiten oder auch Humor schließen die Tests nicht mit ein. Zudem gibt es so viele unterschied­liche IQ-Tests, dass sich die Ergebnisse kaum ver­gleichen lassen.“ 

Schon 1905 räumte der Psychologe Alfred Binet im Rahmen seiner Forschung ein, dass Intelli­genz nicht messbar sei. Er hatte im Auftrag des französischen Schulministeriums den ersten IQ-Test vorgestellt, mit dem besonders förderbedürftige Kinder identifiziert werden sollten. Um sich an Zahlenreihen oder Bildfolgen zu erinnern, nutzt Christiane Stenger die sogenannte Routenmethode, die schon vor 2.000 Jahren im antiken Griechenland angewandt wurde, um Reden frei vortragen zu können. Hierbei wird ein Raum imaginiert, der bekannt ist, wie etwa die eigene Wohnung. Jede neue Information, die man sich merken möchte, wird mit einem Routenpunkt in diesem imaginären Raum verbunden. Christiane Stenger veranschaulicht die Routenmethode anhand einer Einkaufsliste: 

„Ich beginne an der Wohnungstür. Es klingelt, ein Apfel steht vor der Tür und sagt `Guten Tag´. Auf dem Stuhl in der Ecke hüpft die Birne, die sich freut, dass der Apfel zu Besuch kommt. Ich gehe an der Garderobe vorbei, meine Jacke ist mit Joghurt beschmiert. Ich schaue in den Spie­gel neben der Garderobe und sehe, dass sich mein Kopf in einen Kürbis verwandelt hat.“

Die Methode ist sehr simpel und funktioniert deshalb, weil sie sich direkt auf die Arbeitsweise des Gehirns bezieht und Verknüpfungen zwischen neuen und schon bekannten Informationen herstellt. „Unser Gehirn liebt Geschichten und Bilder. Das ist evolutionär bedingt. Bevor Menschen lesen und schreiben konnten, wurde Wissen in Erzählungen weitergegeben. Wenn man sich vier Bilder mit der Routenmethode merken kann, sind auch 400 Bilder möglich“, weiß Christiane Stenger aus Erfahrung.

Grafische Abbildung, die die Routenmethode durch Einprägen mit Geschichten visualisiert

Die Grafik illustriert ein Beispiel für die Routenmethode und das Einprägen mit Hilfe von Geschichten.

In den Gedächtniscoachings, die die 35-Jährige gibt, können sich alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen schon nach wenigen Stunden 80 Zahlen merken. Unabhängig davon, ob es um das Erinnern von Zahlenreihen oder jede andere Begabung geht: Ausschlaggebend für die Intelligenzbildung sind keine neuronalen Eigenschaften. „Der entscheidende Antrieb sind Persönlichkeitsmerkmale wie Begeisterungsfähigkeit, Motivation, Frustrationstoleranz und Fleiß“, sagt Christiane Stenger und fügt hinzu: „Es gibt so viele Variationen in der Hochbegabung. Ich persönlich bin der Überzeugung, dass jeder Mensch in einem Bereich hochbegabt ist.“

Sie verweist auf Carol Dweck, Psychologieprofessorin an der Stanford University, die behauptet, dass nicht die Begabung, sondern das Selbstbild einer Person ausschlaggebend für Erfolg sei. 

„Entscheidend für die Intelligenzbildung sind Persönlichkeitsmerkmale wie Begeisterungsfähigkeit, Motivation, Frustrationstoleranz und Fleiß.“ 

Christiane Stenger

Dweck geht davon aus, dass alle Menschen mit einem dynamischen Selbstbild geboren werden. Ein Kleinkind würde zum Beispiel nie aufhören, das Laufen zu probieren, auch wenn es bei den ersten Gehversuchen hinfällt. Mit zunehmendem Alter kann sich das Selbstbild ändern. Bei einem statischen Selbstbild geht eine Person davon aus, dass die Persönlichkeit oder auch die Intelligenz etwas Feststehendes sei. 

Das heißt, wenn sich nach einer kurzen Phase des Ausprobierens keine Erfolge einstellen, wird davon ausgegangen, dass man kein Talent in diesem Bereich hat und sich hier nicht weiterentwickeln kann. Das hindert jedoch viele Menschen daran, eine Hochbegabung zu entdecken und ihre Intelligenz in diesem Bereich auszubilden.

Das Gehirn hat keine Kapazitätsgrenze

Die Kapazität unseres Gehirns beschränkt die Intelligenzbildung nicht. Die Vorstellung, dass das menschliche Gehirn wie eine Festplatte funktioniert, die voll werden kann, ist ein Irrglaube. „Das Gehirn ist wie ein Netz an Wissen. Je dichter dieses Netz ist, desto mehr kann darin hängen bleiben und desto mehr Kapazitäten bekommt es. Wir sind theoretisch nur limitiert durch unsere Lebenszeit und die Pausen, die das Gehirn braucht“, so Christiane Stenger. 

Grafische Abbildung eines Gehirns

Wenn Intelligenz also kein statischer Zustand ist, sondern von Persönlichkeitsmerkmalen abhängt und durchaus trainierbar ist – was meinen wir dann damit, wenn jemand als besonders intelligent gilt? Was genau bedeutet Intelligenz? Die wohl allgemeinste Definition bezeichnet Intelligenz als die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Was das im Detail heißt, darüber sind sich verschiedene Wissenschaftsbereiche wie Psychologie, Erziehungswissenschaften oder Neurologie und auch Fachleute innerhalb dieser Bereiche uneins. Für Christiane Stenger gehört zur Definition ein Wertekonsens dazu: „Intelligenz ist die Eigenschaft, Probleme zu lösen, aber so, dass es möglichst für alle von Vorteil ist. Demnach nutzen wir unsere vorhandene Intelligenz ziemlich unintelligent und sollten unser Konzept von Intelligenz kritisch hinterfragen.“ Stenger wünscht sich, dass wir unsere Intelligenz noch weitaus stärker für das Allgemeinwohl einsetzen. Es gebe genug Herausforderungen, die es von der Menschheit zu lösen gelte. Dabei sollten nicht nur wirtschaftliche Lösungen, sondern vor allem die altruistischen im Vordergrund stehen, so Stenger.

„Unser Gehirn entwickelt sich jedoch nur so, wie wir es benutzen. Je mehr wir es trainieren, desto besser entwickelt es sich. Intelligenz ist nichts Statisches.“

Portraitfoto von Christiane Stenger, Gedächtnisweltmeisterin und -trainerin sowie Bestsellerautorin
Christiane Stenger

Die Schimpansenforscherin Jane Goodall fragte einst, wie wir unser Zuhause zerstören können, wo wir doch so klug seien. Vielleicht ist die größte Aufgabe im Kontext der Intelligenz nicht, sie weiterzuentwickeln oder zu vergrößern, sondern einen Weg zu finden, sie besser einzusetzen.

Einprägen in Geschichten

Die berühmte ABC-Formel aus dem Matheunterricht prägt sich Christiane Stenger so ein:

Im Zähler steht: „minus b“. Dazu stelle ich mir einen Bären vor. Und der läuft rückwärts. Auf einmal fängt er an zu torkeln, läuft vor- und rückwärts: plus und minus. Er stolpert über eine Wurzel, ist total benebelt, sieht alles doppelt: b im Quadrat. Jetzt wird ihm übel, er erbricht vier Ananas und Zitrusfrüchte, daraus wird „minus 4ac“. Er teilt diese Masse – Bruchstrich – und findet noch einmal zwei Ananas, also „2a“.

Grafik der mathematischen abc-Formel

Grafische Abbildung der mathematischen abc-Formel

Organische Intelligenzformen

Eine weit verbreitete Definition organischer Intelligenzformen stammt von Erziehungswissenschaftler Howard Gardner, der in den 1980ern seine Theorie der multiplen Intelligenzen entwickelte. Sie ist zwar – wie alle Intelligenzdefinitionen – nicht unumstritten, zeigt aber deutlich die vielfältigen Ausprägungen von Intelligenz. Die ersten drei der folgenden Formen nach Gardner können übrigens von IQ-Tests gemessen werden.

Einmalig 23: Sprachlich Linguistisch

Sprachlich-linguistische Intelligenz 

Bezeichnet die Fähigkeit, Sprachen zu lernen, aber auch die Sensibilität für geschriebene und gesprochene Sprache, die Bedeutung von Wörtern und die Fertigkeit, diese Sprache zu bestimmten Zwecken einsetzen zu können. 

Mögliche Berufe: Dichter, Redner und Rechtsanwälte

 

Piktogramm: Logisch-Mathematisch

Logisch-mathematische Intelligenz 

Umfasst die logische Analyse von Problemen und mathematischen Gleichungen oder die Fähigkeit, Beweise zu finden, um abstrakte Probleme zu lösen. 

Mögliche Berufe: Naturwissenschaftler, Programmierer und Mathematiker

 

Einmalig 23: Körperlich Kinästhetisch

Körperlich-kinästhetische Intelligenz 

Demonstriert, den Körper oder auch nur einen Teil davon, wie etwa die Hände, zu einer Problemlösung oder Gestaltung einsetzen zu können. 

Mögliche Berufe: Tänzer, Sportler und Handwerker

Einmalig 23: Naturalistisch

Naturalistische Intelligenz 

Beschreibt die Sensibilität für Naturphänomene, die Fähigkeit, sie zu erkennen und unterscheiden zu können. 

Mögliche Berufe: Köche, Tierärzte und Umweltspezialisten

 

Einmalig 23: Musikalisch Rhythmisch

Musikalisch-rhythmische Intelligenz 

Beschreibt die Sensibilität für Rhythmus, Tonhöhe, Metrum, Klang, Melodie und Timbre sowie die Begabung zum Komponieren und Musizieren. 

Mögliche Berufe: Komponisten, Dirigenten und Musiker

Einmalig 23: Bildlich Räumlich

Bildlich-räumliche Intelligenz 

Ist die Fähigkeit, abstrakt und in multiplen Dimensionen zu denken. Hierzu gehören der theoretische und praktische Sinn für große Räume, aber auch für begrenzte Raumfelder. 

Mögliche Berufe: Architekten, Piloten und Chirurgen

Einmalig 23: Interpersonal

Interpersonale Intelligenz 

Ist vergleichbar mit Empathie: Sie beinhaltet, Gefühle, Stimmungen und Absichten anderer Menschen nachzuempfinden, aber auch beeinflussen zu können. Sie wird auch soziale Intelligenz genannt. 

Mögliche Berufe: Heilberufler, Politiker und Verkäufer

Einmalig 23: Interpersonell

Intrapersonelle Intelligenz

Ist die Fähigkeit, die eigenen Gefühle, Schwächen und Motive zu verstehen und zu beeinflussen. Zusammen mit der interpersonalen Intelligenz bildet diese Form die Grundlage zur Theorie der emotionalen Intelligenz. 

Mögliche Berufe: Schauspieler, Entrepreneure und Künstler

 

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